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Nermins Traum

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Text und Fotos: Carsten Stormer, Zeitenspiegel

In der eingekesselten syrischen Stadt Zabadani schreibt eine junge Frau in ihrer eigenen Zeitung gegen das Unrecht an in ihrem Land. Das gefällt nicht allen.

Die junge Frau läuft an einem ausgebrannten Panzer vorbei, steigt über Schuttberge in den zerstörten Straßenzügen ihrer Heimatstadt Zabadani. Besucht erst in die ausgebrannte Moschee, dann in die Kirche nebenan, deren Glockenturm von einer Granate getroffen wurde. Dann in die Schulen, in denen schon lange nicht mehr unterrichtet wird. Ein Panorama der Verwüstung. Links und rechts Mauerreste voller Einschusslöcher, rostige Autowracks, Panzerschrott, metertiefe Schlaglöcher; Müll aus zwei Jahren Krieg. Penibel hält sie alles mit ihrer Kamera fest, macht sich Notizen für den nächsten Artikel. An einem Fenster ohne Scheiben erscheint ein Mann, beobachtet die Frau auf der Straße und ruft herunter, dass sie besser verschwinden solle. „Kanas!“, sagt er. „Scharfschützen!“. Dann zieht er sich wieder ins Innere der Ruine zurück. Kurz darauf erfolgt ein Warnruf der Späher in den Bergen, die die Panzer beobachten. „Granate! Granate! Granate!“, krächzt es aus dem Funkgerät, das die Frau, wie alle verbliebenen Einwohner Zabadnis, immer bei sich trägt, um sich gegenseitig vor Angriffen oder Gefahr zu warnen. Die junge Frau rennt in einen offenen Hauseingang. Wartet den ersten Einschlag ab. Rennt weiter, geduckt, die Hände auf ihr Kopftuch gelegt, als wolle sie sich so vor herumfliegenden Splittern schützen. Sie flüchtet in eine Wohnung. Erschöpft und zitternd lehnt sie sich gegen die Mauer, ringt nach Luft. „Wann hat das alles endlich ein Ende“, fragt sie und schließt sie Augen.

Selbst in der sicheren Wohnung umklammert sie den Kugelschreiber, minutenlang, als müsse sie sich an etwas festhalten, darunter eine weiße Seite Papier. Still sitzt sie da, mit hängenden Schultern, ihr Schweigen wird laut, als draußen die Waffen für einen Moment innehalten. Dann wieder das schrille Pfeifen der Panzergranaten, ein Krach, ganz in der Nähe. Das Minarett der Moschee ist getroffen. Gesteins und Schrapnellsplitter prasseln gegen die Hauswand. Eine Staubwolke dringt durchs Fenster. Mit einem Ruck beugt sich die zierliche junge Frau nach vorn. Und fängt endlich an zu schreiben.

Sie nennt sich Nermin. Züchtig, mit Kopftuch, wie es sich im konservativen Zabadani, einem Städtchen im Südwesten Syriens, für Frauen gehört. Ihren richtigen Namen traut sie sich nicht zu nennen. Sie muss sich schützen, und ihre Familie, vor der syrischen Armee, der Geheimpolizei, die sie suchen und ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt haben. Denn die 31-jährige ist Chefredakteurin, Reporterin und Karikaturistin der regimekritischen Zeitung Oxygen. Ein Blatt, 32 Seiten, das sie zu Beginn des Aufstands gegen das syrische Regime mit vier Freundinnen gründete. Damals, als plötzlich alles möglich schien und sie endlich das sagen und schreiben konnten, was ihnen auf der Seele brannte, ohne dass jemand zensierte oder sie für ihre Gedanken ins Gefängnis warf. Als Menschen wie sie erst zu hunderten, dann zu tausenden und irgendwann zu hunderttausenden auf die Straße gingen, um für mehr Chancen und Rechte zu demonstrieren. Als der Mantel der Geschichte durch Syrien wehte und die Hoffnung bestand, die vierzigjährige Diktatur abzuschütteln. Sie träumten von einem Neuanfang: Freie Gedanken in einer freien Presse. So etwas gab es bis dahin nicht in Syrien.

Der Traum ist inzwischen fast unter dem Schutt des Krieges begraben. Sie sitzt vor ihrem Laptop und macht sich Notizen. Ihre Hände zittern. Auf dem Bildschirm laufen die Bilder von zuckenden, sterbenden Kindern, Schaum vorm Mund, kleine Körper, von Muskelkrämpfen geschüttelt. Nermin weint, als sie ihren Leitartikel für die kommende Ausgabe schreibt. Es ist der Tag nach den Giftgasangriffen in al-Ghouta, den von den Rebellen gehaltenen Vororten von Damaskus. Immer wieder sieht sie sich ein Video an: Ein kleines Mädchen, unter Schock, das von einem Pfleger gehalten wird, und immer wieder schreit „Ich bin am Leben… ich bin am Leben.“ Die Überschrift ihres Artikels lautet: „Du bist am Leben, aber die Welt ist gestorben.“ Darin fragt sie, warum Giftgas gerade dann verwendet wird, wenn die UNO-Inspekteure nur wenige hundert Meter entfernt in Damaskus an einer Hotelbar sitzen. Soll das Ablenken und den Verdacht auf die „Terroristen“ lenken? „Sind syrische Kinder Versuchskaninchen, an denen Assad chemische Waffen ausprobieren kann, um zu sehen, wie weit er ungestraft gehen kann. Wie Pharmaunternehmen, die heimlich neue Medikamente an Menschen in armen Ländern testen?“, fragt sie. „Wir Syrier werden den 21. August 2013 nicht vergessen. Es ist der Tag, an dem die Menschlichkeit befleckt wurde“, sagt sie, überlegt kurz und tippt den Satz in ihren Computer. Ja, sie habe Angst, dass Obamas rote Linie sich wieder einmal verschiebt und bald mit Chemiewaffen bestückte Raketen auch in Zabadani einschlagen. Immerhin ist der Vorort Ghouta nur ein paar Kilometer entfernt.

Es ist ein einsamer Kampf, den sie führt. Nermins Mitstreiterinnen flohen schon vor Monaten aus Zabadani – in die Flüchtlingslager im Libanon, in die befreiten Gebiete des Nordens, zu Verwandten in anderen Teilen Syriens. Nur Nermin ist geblieben. „Weil es meine Pflicht ist“, sagt sie, Glitzern in den Augen. Ihre Freundinnen liefern jetzt Texte aus dem Exil, per Email, Skype, Twitter. Seit einigen Monaten erscheint Oxygen nur noch als Netzzeitung. „Unsere Redaktion ist zerstört, und wegen der Blockade bekommen wir kein Papier mehr – oder es ist zu teuer.“ Außerdem sind die meisten Bewohner aus Zabadani geflohen. Von den einst 40.000 Einwohnern sind nur noch etwa 4.000 geblieben. „Und die bleiben aus Angst vor den Granaten meistens den ganzen Tag in ihren Häusern.“ Aber alle würden Oxygen im Netz lesen.

Vor der Revolution war Nermin Lehrerin für Englisch und Informatik in Damaskus. Jetzt sitzt sie hier im zweiten Stock eines zerschossenen Hauses, das als Redaktion herhalten muss, nachdem das alte Büro von mehreren Granaten getroffen wurde und ausbrannte. „Sie wussten, wo wir die Zeitung drucken und haben uns gezielt beschossen.“ Mal wieder ist der Strom ausgefallen, ein Generator brummt. Der Drucker ist kaputt und das Internet funktioniert auch nicht. In wenigen Stunden ist Redaktionsschluss. Und noch immer sind die Artikel ihrer Kolleginnen nicht eingetroffen. Sie schließt eine Digitalkamera an ihren Laptop, lädt die Bilder des Vormittags hoch: Die zerstörte Moschee, eine zerschossene Schule, Menschen die Grafittis auf Wände schreiben: Hilferufe an die Welt, die sich von Syrien abgewandt hat.

Von der Euphorie des Anfangs ist heute nicht mehr viel übrig. Die Hoffnung auf einen Neuanfang ist Hoffnungslosigkeit gewichen. Ratlosigkeit, was die Zukunft für sie bereithält. Nur der Zorn ist geblieben, und der Trotz, unter dem ständigen Bombardement der Panzer und der Artillerie nicht einzuknicken. Und die Gewissheit, das richtige zu tun. „Wir machen weiter“, sagt sie. „Bis wir siegen. Oder sie uns töten oder gefangen nehmen.“ Das Leben, das sie einmal kannte, existiert nicht mehr. Und so schreibt sie Woche für Woche gegen das Unrecht an. Gegen die Verhaftungen, gegen Folter, gegen die Zerstörung der Schulen, der Krankenhäuser, der Moscheen und Kirchen. Woche für Woche, seit zwei Jahren. Eine zermürbende, gefährliche Arbeit.

Es gibt inzwischen mehrere Revolutionszeitungen in Syrien. In Aleppo, in Damaskus. Sprachrohre des bewaffneten Aufstands, meistens. Oxygen ist anders. „Wir kritisieren nicht nur das Regime, sondern auch die Freie Syrische Armee“, sagt Nermin. „Denn sie haben uns die Revolution geklaut und die Werte verraten, für die wir auf die Straße gegangen sind.“ In fast jeder Ausgabe von Oxygen finden sich Artikel über Rebellen, die plündern, unschuldige Menschen erschießen oder sich gegenseitig bekämpfen. Und am meisten sorgt sie sich über die schleichende Radikalisierung innerhalb der freien syrischen Armee. „Wie konnten wir es zulassen, al-Qaida in unsere Reihen aufzunehmen? Mit welcher Rechtfertigung exekutieren manche Rebellengruppen unschuldige Menschen? Das macht uns nicht besser als diejenigen, die wir bekämpfen.“ Verhandeln statt schießen, nur so ist Veränderung möglich, glaubt sie. „Wir wollten keinen Krieg!“

Es sind Aussagen wie diese, mit denen sich Oxygen in die Herzen der Bevölkerung geschrieben hat. Doch innerhalb der FSA und den Revolutionskomitees haben sie sich damit unbeliebt gemacht. Nermin und ihre Mitstreiter sind zwischen die Fronten geraten, weil sie sich nicht instrumentalisieren lassen wollen. Auf den Straßen Zabadanis und im Internet wird sie manchmal als Verräterin und Nestbeschmutzerin beschimpft. Die neuen Herren mögen keine Kritik. Einmal stand ein bewaffneter Mann in der Redaktion und drohte: Wenn ihr nicht für uns seid, seid ihr gegen uns, sagte er. Passiert ist bislang nichts, aber sicherheitshalber hat sie zwei Männer als Reporter angeheuert, weil die leichter Zugang zu den Betonköpfen bekommen und manche Männer nicht mit Frauen sprechen wollen. „Als Frauen werden wir häufig nicht ernst genommen. Aber wir machen weiter, weil wir auf der richtigen Seite stehen.“ Über 30.000 Leser folgen Nermin auf Facebook und ihrer Webseite, lesen Woche für Woche ihre Texte und Reportagen. Und Oxygen expandiert. In der Provinzhauptstadt Raqqa im Norden Syriens, haben Mitstreiter im Mai eine Redaktion eröffnet.

Zabadani, eine Vorstadt von Damaskus, war die erste syrische Stadt, die „befreit“ wurde. Das war im Sommer 2011. Aber frei ist Nermin nicht. Denn seitdem ist die Stadt eingekesselt. Auf den Bergen rings um die Stadt stehen Panzer und Artilleriestellungen der Armee, die unaufhörlich die Stadt beschießen; siebzig, achtzig Granaten fallen täglich auf die Stadt. Seit zwei Jahren tragen die Geschosse Stockwerk für Stockwerk ab. Kaum ein Haus, dessen oberste Stockwerke nicht zerstört sind. Zabadani ist zu achtzig Prozent zerstört und die wenigen verbliebenen Bewohner suchen Zuflucht in den Kellern und Erdgeschossen.

Auch Nermin hält es nicht ständig in Zabadani aus. Nimmt sich immer öfter Auszeiten, weil sie nachts von den Bomben und ihren toten oder verschwundenen Freunden träumt. Verbringt immer mehr Zeit bei den Eltern, die in einen Vorort von Zabadani geflüchtet sind. „Meine Familie weiß nicht, was ich hier tue.“ So sei es sicherer für sie. „Ich will sie nicht in Gefahr bringen. Sie glauben, dass es sich nicht lohne, für unsere Sache zu sterben. Obwohl sie das Regime nicht unterstützen.“ Erst heute Morgen kehrte sie nach Zabadani zurück, passierte zwei Checkpoints der Armee und betete zu Allah, dass die Soldaten ihr die Angst nicht anmerkten. Denn in ihrer Handtasche schmuggelte sie eine Mappe mit selbstgemalten Anti-Assad-Karikaturen, die in die aktuelle Ausgabe sollen. „Wenn sie mich erwischt hätten, wäre ich jetzt tot oder im Gefängnis“, sagt sie mit zitternder Stimme und holt die Mappe aus ihrer Tasche: Ein Dutzend Blätter, auf denen das Leid Syriens gezeichnet ist. Ihre Arbeit sei wichtig, findet sie. „Für die Wahrheit.“ Aber sie ist auch ein Drahteilakt ohne Sicherung und Fangnetz. „Zum Glück kontrollieren die Soldaten Frauen so gut wie nie“, sagt sie und ein Lächeln huscht wegen dieses kleinen Sieges über ihr Gesicht. Die Zeitung muss pünktlich erscheinen. „Das erwarten unsere Leser. Das ist das Risiko wert.“ Im Internet liest sie, dass die USA und andere Länder Assad mit Vergeltung drohen. Nermin winkt ab. „Das sind bloß leere Versprechen.“ Dann schlägt die nächste Granate ein. Das Lächeln ist verschwunden.