Gewaltfrei kommunizieren

RosenbergText von Swantje Strieder
Fotos von Paul Hahn

Marshall B. Rosenberg, 71, amerikanischer Friedensaktivist und Erfinder der „Gewaltfreien Kommunikation“ setzt methodisch dort an, wo andere Visionäre wie Mahatma Gandhi oder Martin Luther King aufhörten: bei einer friedfertigen Rhetorik. An zweihundert Tagen im Jahr reist der Arzt und Psychologe durch die Welt, um seinen internationalen Zuhörern in Seminaren und Trainingsprogrammen die „Sprache des Friedens“ zu vermitteln. „Hass und Gewalt sind absolut kontraproduktiv,“ sagt der heute in der Schweiz lebende Friedensforscher, „die Menschen müssen zuerst die gegenseitigen Bedürfnisse erkennen und danach handeln.“

Als Kind armer jüdischer Eltern in Detroit wurde Rosenberg nicht nur von den schwersten Rassenunruhen der Vierziger Jahre erschüttert, sondern durchlitt antisemitische Diskriminierung in Schule und Universität, worauf hin er sich die wichtigsten Fragen stellte: Was motiviert Menschen zu Gewalt? Wie schaffen es manche, auch in Krisen mitfühlend, hilfsbereit und authentisch zu bleiben? Und wie kann man Frieden methodisch umsetzen? Nach dem Zweitstudium der vergleichenden Religionswissenschaft kam Dr. Rosenberg zu der Überzeugung, dass Gewaltverhalten nicht angeboren, sondern antrainiert ist.

Seit 35 Jahren hat er seine Friedens-Methodik an Schüler, Eltern, Lehrer, Ausbilder, Manager, Ärzte, Militärs, Gefangene, Wachpersonal, Polizisten, Geistliche und Politiker in 40 Ländern weitergegeben. Rosenbergs Center of Non Violent Communication (CNVC) in den USA unterstützt über ein weltweites Netzwerk Friedensaktivisten in Brennpunkten wie Israel, Palästina, Irland, Russland, Ruanda, Burundi, Nigeria, Serbien, Kroatien und Sri Lanka.

Mr. Rosenberg, Irans Präsident Ahmedineshad führt gewaltätige Reden bis zur Verleugnung des Holocaust, US-Präsident Bush droht mit einem neuen Krieg im Mittleren Ost. Schlechte Zeiten für einen Friedensaktivisten?

Das ist genau der richtige Zeitpunkt, wo die beiden Kampfhähne einen guten Mediator bräuchten. Genau das richtige Beispiel, wo die zwei Protagonisten, wenn keiner vermittelt, einen Krieg mit Tausenden von Toten auslösen könnten. Beide drohen und beide bringen ihr eigentliches Anliegen nicht rüber. Damit ist bereits die erste Stufe der Gewalt erreicht!

Also, wenn Sie die zwei an einen Tisch bringen könnten und einen gewaltfreien Dialog nach Marshall Rosenberg in Gang setzen könnten …

… würde ich den iranischen Präsidenten fragen: „Was sind ihre Bedürfnisse?“ Und Ahmedineshad würde mir wahrscheinlich eine lange Predigt über den amerikanischen Imperialismus halten und dass ein Mr. Bush kein Recht habe, ihm irgendetwas aufzuzwingen.

Das würde sich Präsident Bush nicht lange anhören. Er liest ja nicht mal Briefe aus dem Iran.

Klar, Mr. Bush würde sofort dazwischengehen und sagen, dass er als Präsident eine Mission für die Vereinigten Staaten zu erfüllen habe, und was die Bibel dazu sage, usw., usw. Meine Aufgabe wäre es, ganz genau hinzuhören und die Aussagen der zwei Opponenten in die Bedürfnisse zu übersetzen. Etwa, indem ich Ahmedineshad sage: „Es scheint Ihnen wichtig zu sein, dass Ihr Land autonom bleibt und nicht von einer fremden Macht herumkommandiert wird.“ Das ist richtig, würde der Iraner sagen, schon gar nicht von jemandem, der die Bombe, die er selber besitzt, anderen verweigern will! Und George W. Bush würde ich fragen, welches die Bedürfnisse des Irans sind? Bush würde poltern, dass Ahmedineshad wie alle anderen Diktatoren im Mittleren Osten sei. Ein Fundamentalist! Einer, der unbedingt die Bombe bauen wolle …

… ein Terrorist …

(lacht) ganz genau! …“Entschuldigung, Mr. Bush“, würde ich sagen, „Sie sollen mir keine politische Einschätzung geben, sondern genau zuhören und mir sagen, welches seine Bedürfnisse sind.“ Wenn wir die herausgefunden haben, sind wir nämlich einen großen Schritt weiter.

Gewaltffreie Kommunikation heißt für Sie also, hinter die Kulisse der üblichen Drohgebärden auf die verletzten und versteckten menschlichen Gefühle, auf die eigentlichen Handlungsmotive zu schauen?

„Es gibt einen Ort jenseits von richtig und falsch, da treffen wir uns,“ sagt ein persisches Sprichwort. Ich helfe den streitenden Parteien, sich über ihre wechselseitigen Grundbedürfnisse klar zu werden. Die sind bei allen Menschen gleich. Gewaltfreie Kommunikation ist ein Ansatz, der uns helfen kann, vertrauensvoll und mitfühlend miteinander umzugehen und zum gegenseitigen Wohl beizutragen, nicht die ewig gleichen Kampfschemen und verletzenden Argumente auszutauschen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sowohl in der politischen Arena, in Unternehmen, in der Schule oder in der Familie jeder Konflikt gelöst werden kann, sobald die Beteiligten nicht mehr mit Schaum vor dem Mund reden, sondern die Motive und Grundbedürfnisse des anderen verstehen lernen.

Das scheint bei politischen oder religiösen Hardlinern schwierig zu sein.

Bush und Ahmedineshad sind im Grunde nette Leute. Aber sie stecken in ihrer Herrschaftsstruktur und ihrer gewaltätigen Sprache fest. Kürzlich habe ich mich mit Hamas-Vertretern in Palästina getroffen – es ging um freies Geleit für mich und meine Mitarbeiter -, auch die waren reizende, angenehme Menschen. Leider sind wir alle die letzten 8000 Jahre in Gewaltstrukturen erzogen worden, wo nur in Gut und Böse kategorisiert wird und werden obendrein von Leuten regiert, denen das Wohl des Mitmenschen nicht gerade ein Anliegen ist.

In der Bibel gibt es jede Menge Gewaltszenen, ebenso im Koran, wo der Islam mit Feuer und Schwert verbreitet wird, das Judentum begründet sich auf seinen Auserwähltheitsanspruch. Sind Religionen die Ursache für Gewalt?

Das kann man nicht unbedingt sagen! Religionswissenschaftler wie mein US-Kollege Milton Rokeach sind beim Vergleich von acht Weltreligionen zu der Einsicht gelangt, dass alle einen gleich hohen Anteil an Mitleidensfähigkeit haben. Und dass es in jeder Religion Falken und Tauben gibt. Im Westjordanland arbeite ich seit Jahren mit einem Palästinenser namens Nafiz zusammen, ein gläubiger Moslem, der niemals Attentate und Gewalt billigen könnte, in Israel führt Rabbi Rosen unsere Friedenprojekte, auch er ein frommer Mann, der niemals Gewalt im Namen Gottes akzeptieren könnte.

Sie selbst haben als Kind armer jüdischer Eltern Rassendiskriminierung und Gewalt am eigenen Leibe erfahren.

Mein Vater war Arbeiter im Straßenbau. Wir zogen also kreuz und quer durch die USA, immer den Jobs hinterher, bis wir 1942 nach Detroit kamen. Gerade rechtzeitig zu den zweitschwersten Rassenunruhen der US-Geschichte. Was meinen Sie, was das in einem Neunjährigen auslöst, wenn um ihn herum die Leute plötzlich wegen ihrer Hautfarbe umgebracht werden. Tagelang trauten wir uns nicht auf die Straße. Kaum durfte ich aus dem Haus, um zur Schule zu gehen, wurde ich dort als Judenjunge von anderen weißen Kindern gehänselt und zusammengeschlagen. Eines Tages, als ich wieder einmal heulend nach Hause kam, streichelte mein Onkel mir die Wange und sagte: „Sei froh, dass du nicht in Nazi-Deutschland lebst, da wärest du gleich in den Gasofen gekommen.“ Das war kein guter Trost! (er räuspert sich) Aber können Sie sich vorstellen, wie toll das ist, dass gerade die Deutschen heute meine Friedensarbeit mit soviel Interesse, Engagement und Mitgefühl aufnehmen!

Wenn nun aber Gewalt ein fester Teil unserer Kultur ist, wie kann man dann überhaupt Konflikte lösen?

Manchmal geht es sogar erstaunlich leicht. Vor ein paar Jahren sollte ich als Mediator in einem blutigen Stammeskonflikt in Nigeria vermitteln, der seit 80 Jahren andauerte. Im Saal waren zwölf christliche und zwölf muslimische Stammesälteste versammelt. Beide Seiten waren völlig gestresst und verbittert. „Ich bin sicher, dass wir diesen Konflikt lösen können, wenn wir uns über unsere gegenseitigen Bedürfnisse klar werden. Wer möchte beginnen?“, hub ich an. „Ihr seid alle Mörder“, schrie der christliche Stammeshäuptling. „Ihr wollt uns seid 80 Jahren kleinkriegen,“ konterte der Moslem-Häuptling lautstark. Nach einiger Zeit, als die schlimmste Saalschlacht vorüber war, fragte ich den christlichen Häuptling: „Meinen Sie, dass ihr Bedürfnis nach Sicherheit nicht gewährleistet ist?“ So etwa meine ich das, gab er zu. Ich wandte mich wieder an die Moslem-Seite: „Häuptling, könnten Sie wiederholen, was die Bedürfnisse dieses Ältesten sind?“ „Warum habt Ihr meinen Sohn getötet?“, stieß der Mann wütend aus. Das Getöse begann erneut. Ich sagte: „Häuptling, er hat ein großes Sicherheitsbedürfnis. Könnten Sie das bitte wiederholen?“ Das tat der Älteste, wenn auch widerwillig, und das war immerhin ein kleiner Anfang. Es dauerte dann doch ziemlich lange, aber irgendwann sagte einer der Ältesten: „Wenn wir wissen, wie wir miteinander reden können, brauchen wir uns nicht mehr umzubringen.“

Wo bleiben Sie mit ihren eigenen Gefühlen bei einer Friedensmission?

Seit 16, 17 Jahren vermittle ich nun schon im Nahen Osten. Auch als Jude bin ich der Meinung, dass die Palästinenser ihren eigenen Staat haben sollten. Ich verberge meinen Standpunkt nicht, aber in einer so aufgeladenen Atmosphäre komme ich weiter, wenn ich mich persönlich zurückhalte. Wie neulich auf einer Versöhnungskonferenz zwischen 12 Israelis und 12 Palästinensern. „Es macht euch wohl Spaß, euch wie Nazis aufzuführen!“, schrie ein Muhtar, ein palästinensischer Ortsrat, “ … uns wegen nichts für sechs Monate ins Gefängnis zu stecken.“ „Da sehen Sie es, ich habe ja gesagt, mit denen kann man nicht reden! Sie nennen uns Nazis!“, schrie eine Israelin und rannte zur Tür. Das alles passierte in zwanzig Sekunden! Nach langem Tumult konnte ich endlich Ruhe hereinbringen …

Und das Ergebnis?

Oh, es gibt da so viel Positives in den letzten Jahren! Nach einem so turbulenten Abend wie diesem, der dann doch noch konstruktiv endete, bauen wir gemeinsame Friedensteams auf, die dann die gewaltfreie Kommunikation im täglichen Leben erproben. Allein in Israel haben wir auf Wunsch des Erziehungsministeriums in 1000 Kindergärten und 70 Schulen Kurse angeboten. Auf palästinensischer Seite habe ich mit hunderten von Ärzten und Psychologen zusammengearbeitet. In Israel mit Polizisten und Ausbildern.

Aber wie erreichen Sie die politschen Betonköpfe?

An Ariel Sharon war ich schon nahe dran, bevor er schwerkrank wurde, denn Shimon Perez, der große alte Mann und Friedensnobelpreisträger, hatte über die Gewaltfreie Kommunikation gelesen und mit mir Kontakt aufgenommen. Viele Leute in höchster politischer Umgebung profitieren schon von unserer Trainingsmethode.

Was sagen Sie der Mutter eines Selbstmordattentäters? Einer Frau, die zusehen muss, wie sich vielleicht auch noch ihr zweiter, dritter und vielleicht auch ihr jüngster Sohn als Märtyrer samt vieler Unschuldiger in die Luft jagen will?

Glauben Sie mir, es ist immer eine furchtbar traurige Sache, wenn ich mit Eltern, deren Kinder umgekommen sind, zusammenkomme. Wieviel Kummer, wieviel Verzweiflung, aber auch wieviel Positives! Ich kenne eine wunderbare Frau aus Ruanda, die fast ihre gesamte Familie im Bürgerkrieg verloren hat. Sie hatte sich unterm Waschbecken in ihrer Hütte versteckt und musste über Stunden mit anhören, wie die Milizen drei ihrer Kinder abschlachteten, dann ihren Mann und schließlich ihren Bruder. Sie hat fürchterlich gelitten, aber sie will keine Rache. Ihr einziger Lebenssinn ist es, zu verhindern, dass so etwas Monströses je wieder passiert. Mit solchen Persönlichkeiten wie ihr schaffen wir überall auf der Welt ein Netzwerk für den Frieden!

Eine andere Art des Umgangs

Grundregeln der „Gewaltfreien Kommunikation“ nach Marshall B. Rosenberg

Gewaltfreie Kommunikation bedeutet eine andere Art des Umgangs miteinander, um zum friedlichen Lösen von Konflikten beizutragen. Die Friedens-Rethorik versucht, auf Werte und Bedürfnisse, die allen Menschen gemeinsam sind, einzugehen Eine einfühlsame Sprache bildet den Schlüssel zu Empathie und Wohlwollen, Anklage, Aggression oder Abwertung sollten vermieden werden. Das beste Handlungsmotiv ist es, das eigene Leben und das der anderen zu bereichern und zwar freiwillig, nicht aus Angst, Schuld oder Scham!

Alle menschlichen Handlungen sind der Versuch, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen
Es nützt allen Beteiligten, ihre Bedürfnisse durch Kooperation, nicht durch Konkurrenz zu erlangen
Menschen sind von Natur aus hilfsbereit, vor allem, wenn sie aus freiem Willen und ohne Zwang handeln können.

Die Gewaltfreie Kommunikation bietet Gelegenheit, …

  • auf eine befriedigendere Art miteinander umzugehen,
  • Bedürfnisse auf eine Weise zu erfüllen, die auch anderen gerecht wird,
  • schmerzliche und frustrierende Erfahrungen zu bewältigen,
  • Schuldgefühle, Scham, Angst und Depression hinter sich zu lassen,
  • Ärger und Frustration positiv umzuwandeln,
  • Rücksicht, Respekt und Konsens zu fördern und
  • bereichernde Erfahrungen im persönlichen Bereich, in Familie, Schule, Nachbarschaft und Gesellschaft zu sammeln.

(aus „Gewaltfreie Kommunikation“, Jungfermann Verlag, Paderborn 2005)