Aus Feinden werden Nachbarn

Text: Patrick Hemminger,
Fotos: Frieder Blickle

MaliDie Männer warten schon. Omar Abu Zaid wird kommen. Sie haben vieles von ihm gehört: Er mache Feinde wieder zu friedlichen Nachbarn, er finde weise Worte der Versöhnung. Die Alten sitzen auf Teppichen, den Rücken gegen die Wände gelehnt, die Jungen stehen in der Tür. Eine lastende Stille scheint gleichsam über den Teppichen zu schweben. Wer spricht, beugt sich zu seinem Nebenmann und dämpft die Stimme. Die Eingeweihten wissen, wer im Raum zu welchem der beiden feindlichen Lager gehört. 40 Augenpaare senden harte Blicke durch den Raum. Einer der reicheren Männer von al-Mansuriya, einem Weiler im Nildelta, hat sein Empfangszimmer für das Aufeinandertreffen zur Verfügung gestellt. Von der Feldarbeit raue Hände lassen die Perlen der Gebetskette klicken. Die Ablehnung der beiden Gruppen ist in jeder Geste spürbar. Es hatte Streit gegeben, einer von ihnen zum Messer gegriffen. Deshalb sind sie heute hier. Sie wollen die Fehde beenden. Und sich dabei helfen lassen.

Abu Zaid betritt den Raum mit der Selbstverständlichkeit eines Mannes der weiß, was die Menschen von ihm erwarten – und dass er Erfolg haben wird. Er ist ein Muhakim, arabisch für Richter oder Schiedsrichter, eine Institution mit Tradition in Ägypten.

Abu Zaid ist Oberhaupt einer der wichtigen Familien im Nildelta

Abu Zaid ist 70 Jahre alt und Oberhaupt einer der wichtigen Familien im Nildelta; ein paar tausend Menschen gehören dazu. Er ist von größerer Statur als die meisten im Raum. Seine breiten Schultern und die dröhnende Stimme, rau von vielen billigen ägyptischen Zigaretten, verschaffen ihm Aufmerksamkeit, wo auch immer er hinkommt. Der weißgraue Schnurrbart ist akkurat gestutzt, die Brille auf seiner Nase schon lange nicht mehr modern, auch nicht in der ägyptischen Provinz.

Um seinen Kopf hat er ein weißes Tuch geschlungen, um den Nacken einen Wollschal gelegt, der ihm manchmal als Gebetsteppich dient. Seine Gallabiyya, das lange, traditionelle Gewand, verbirgt, dass er sich beim Gehen ein bisschen schwer tut nach langem Sitzen. Fünf Mal unternahm er die Pilgerfahrt nach Mekka, die Menschen sprechen ihn mit dem Ehrentitel Hajj an. Abu Zaid ist einer der renommiertesten Streitschlichter des Landes, einer der alten und erfahrenen, gerufen bei den schweren Fällen, Mord oder Vergewaltigung etwa. „Scheich al-Muhakimin“ nennen sie ihn, weisester der Muhakimin. Die Schlichtung heute ist eine neue Herausforderung für ihn. Er hatte nicht viel Zeit, sich darauf vorzubereiten. Von seinem Einfühlungsvermögen, von wohl gewählten Worten, von seinem Feingefühl für die Würde beider Seiten wird abhängen, ob er weiteres Blutvergießen verhindern kann.

„Wir Muslime sind alle Brüder. Wir müssen lernen, uns zu einigen.”

Abu Zaid nimmt an der Stirnseite des Raumes Platz. In der Mitte schenkt ein Mann Tee in kleine Gläser mit viel Zucker und verteilt sie unter den Anwesenden. Der Imam des Ortes erhebt als erster die Stimme und richtet einige mahnende Worte an die Anwesenden: „Wir Muslime sind alle Brüder. Wir müssen lernen, uns zu einigen. Konflikte müssen friedlich gelöst werden. Sie dürfen nicht dazu führen, dass die Menschen ihren Glauben verlieren. Der Prophet spricht: Wer seinen Nachbarn nicht gut behandelt, hat keinen Glauben.” 

Dann sprechen alle gemeinsam die Fatiha, die erste Sure des Koran: „…Lob sei Gott, dem Herrn der Menschen in aller Welt, dem Barmherzigen und Gnädigen, der am Tag des Gerichts regiert!“

Abu Zaid schaut bedächtig in die Runde. „Einigen sich die beiden Parteien darauf, dass sie sich hier und heute versöhnen wollen und da alle wissen worum es geht, wir den Fall nicht neu aufrollen?”
„Nein!”, ruft das Opfer. Er ist mittleren Alters und trägt einen schwarzen Schnurrbart. Der Mann zittert vor Wut, zieht einen Koran hervor, hält ihn hoch. Alle Blicke wenden sich ihm zu, die Männer richten sich auf. „Als dieser Kerl mit dem Messer…“
„Genug davon!“ Abu Zaids Stimme donnert durch den Raum. Er richtet sich auf die Knie auf. Mit einem Mal sind alle ruhig. Zu hören ist nur die Hupe eines vorbeifahrenden Autos.

Tarik Ramadan trägt Jeans und einen dunkelgrauen Sakko

Ein Mann im Raum hält sich im Hintergrund. Er beobachtet. Tarik Ramadan fällt auf unter den traditionell gekleideten Dorfbewohnern, er trägt Jeans und einen dunkelgrauen Sakko. Seine Körperhaltung wirkt ruhig und entspannt, aber sein Blick wandert an den Gesichtern der Männer entlang. Ihm entgeht nichts. Ramadan versteht es, als Beobachter fast unsichtbar zu werden. Er könnte in einer Menschenmenge verschwinden, kommen und gehen, ohne dass die anderen merken, dass er überhaupt da gewesen ist. Ramadan selbst ist kein Muhakim, aber der 37-Jährige könnte für den Fortbestand dieser Tradition in Ägypten eine entscheidende Rolle spielen.

Muhakimin gab es in der arabischen Welt schon seit undenklichen Zeiten. Früher waren das automatisch die Ältesten und damit hoffentlich auch die weisesten Männer eines Stammes. Muhakim war keine Tätigkeit, die sich lernen ließe, sondern ein Titel, den sich seine Träger über Jahre hinweg erworben hatten. Sie taten sich durch meist religiöses Wissen hervor und wurden deshalb um ihre Meinung gefragt. Erwies diese sich als klug und hilfreich, verbreitete sich ihr Ruf. Manche der Muhakimin waren weit über die Grenzen ihrer Heimat hinaus bekannt.

Fernsehprediger und Internetratgeber sind ihre Konkurrenz

Es gibt sie immer noch, Muhakimin mit Charisma wie Abu Zaid. Bedeutende Schlichtungen werden manchmal sogar in den Fernsehnachrichten verkündet. Aber die Bedeutung der Tradition im Alltag nahm während der vergangenen Jahre ab. Fernsehprediger und Internetratgeber sind ihre Konkurrenz. Die Menschen sind heutzutage mobiler und verlassen öfter als früher ihre Heimat, wo die Institution des Muhakim etwas gilt. Ramadan sieht dennoch eine große Zukunft für die Muhakimin: „Sie werden respektiert, ihre Methoden sind effektiv. Sie können helfen, wo die Gerichte versagen.“

Er selbst hatte nach seinem Jurastudium sieben Jahre als Anwalt gearbeitet und während dieser Zeit die Schwächen des ägyptischen Justizsystems kennen gelernt. Die Gerichte in Ägypten arbeiten in den meisten Fällen langsam und schlecht, viele Richter und Anwälte sind korrupt. Selbst einfache Fälle dauern oft Monate und Jahre, die Parteien überziehen sich gegenseitig mit falschen Beschuldigungen. Das Misstrauen in der Bevölkerung ist groß. Niemand könne sich darauf verlassen, vor Gericht Recht zu bekommen. Da kommt manch einer auf die Idee, sich selbst um Gerechtigkeit zu kümmern – auch mit Gewalt. Die Fälle von Selbstjustiz nehmen zu, und weil das so sei, veröffentliche die Regierung keine Statistiken mehr dazu, sagt Ramadan.

In Ägypten gibt es keinen Streit zwischen zwei Personen

Dabei haben die meisten Konflikte in Ägypten banale Ursachen, wie etwa eine tropfende Wäscheleine, eine zugestellte Parklücke oder geringe Schulden. Dass solche Probleme eskalieren, liegt an der Struktur der Gesellschaft. In Ägypten gibt es keinen Streit zwischen zwei Personen. Was als harmloses Wortgefecht zwischen zwei Kontrahenten beginnt, ist im selben Moment ein Konflikt zwischen den Familien der beiden – und das kann rasch mehrere tausend Menschen betreffen. Ein Eheproblem ist keine intime Angelegenheit, sondern greift wie ein Virus auf die Sippen von Mann und Frau über. Streiten sich zwei Bauern um die Grenzen eines Ackers, empören sich Brüder, Schwestern, Cousins und Cousinen, Großeltern und Kinder mit. Verletzte Ehre ist das große Thema. Ein erster Faustschlag wird mit einem Stockhieb beantwortet, jemand zieht ein Messer und wenn niemand da ist, der den Hitzköpfen Einhalt gebietet, gibt es auch Tote. Sind die Gefühle derart eskaliert, sind die zornigen Gemüter nur schwer zu besänftigen. Vor gerade einmal zwei Monaten geschah so ein Fall in Zaidiya, einem kleinen Ort in der Nähe von Kairo. Während einer Hochzeitsfeier stieß eine junge Frau aus Versehen mit einem Mann zusammen und sagte ihm ein paar unfreundliche Worte, er verpasste ihr einen Stoß. Am Nachmittag des nächsten Tages waren zwei Männer, Verwandte der beiden, tot. Die Muhakimin hatten vereinbart, sich am Abend zu treffen, und den Fall zu klären. Aber weil sie sich erst noch abstimmen mussten, kamen sie zu spät.

„Einem Muhakim geht immer um Ausgleich zwischen den Parteien”

Je früher also ein Muhakim eingreift, desto größer sind die Chancen, dass er das Problem löst, bevor es überhaupt zu Gewalt kommt. Ramadan hat das in den Dörfern vielfach beobachtet. Er kam auf die Idee, die traditionelle Streitschlichtung zu modernisieren. Er will dafür sorgen, dass die Muhakimin im Alltag wieder präsenter und untereinander besser vernetzt sind. „Sie sollen schneller am Brandherd sein und verhindern, dass das Feuer ausbricht“, beschreibt Ramadan seine Vision.

Die Streitschlichter arbeiten nicht nur schneller und effektiver als staatliche Gerichte. Sie wirken auch tiefer, weil sie die Gefühle der Beteiligten wertschätzen. Normale Gerichtsurteile dienen in erster Linie dazu, den Täter zu bestrafen. Das Opfer und sein Leid spielen selten eine Rolle. Besonders auf dem Dorf, wo sich Täter und Opfer zwangsläufig immer wieder begegnen, reißen die alten Wunden immer wieder auf. Die Fehde wütet weiter, erst versteckt, dann offen. „Einem Muhakim dagegen geht es immer darum, einen Ausgleich zwischen den Parteien zu finden”, sagt Ramadan. „Sowohl Opfer als auch Täter müssen seinen Spruch akzeptieren können. Denn wenn ein Konflikt wirklich gelöst werden soll, muss der Groll zwischen den Familien an der Wurzel gepackt und dabei die Ehre beider Seiten bewahrt werden.”

Ramadan sieht sich als Kontaktstelle für die Muhakimin

Der Gedanke, dass die Muhakimin in der ägyptischen Gesellschaft wieder eine größere Rolle spielen könnten, kam Ramadan etwa vor drei Jahren. Von seiner Arbeit als Anwalt war er zunehmend frustriert, sein Vertrauen in die staatliche Rechtssprechung war auf dem Nullpunkt. Da erfuhr er, dass auch Muhakimin rechtskräftige Urteile fällen können, obwohl sie außerhalb des offiziellen Justizapparates und nur ehrenamtlich agieren. Besser gesagt: weil das so ist.

Ramadan sieht sich als Kontaktstelle für die Muhakimin. Er kennt viele persönlich, er bringt sie in Workshops zusammen, damit sie voneinander lernen können – und noch erfolgreicher schlichten können.

„Ich möchte der Arbeit der Muhakimin mehr Struktur geben, damit sie nicht mehr zufällig, sondern schon vorbeugend tätig werden”, sagt Ramadan. Als erstes  ging er in seinem Heimatort Kum al-Ahmar, eine knappe Autostunde von Kairo entfernt, zu den Oberhäuptern der großen Familien und stellte ihnen seine Idee vor. Sie versprachen, ihn zu unterstützen. 

Die örtliche Polizeistation hat nun weniger Arbeit

Seitdem brennt in den oberen Fenstern des Hauses neben der Moschee von Kum al-Ahmar jeden Abend Licht. Dort hat die private Organisation ihren Sitz. Die Menschen im Ort sollen wissen, dort ist jemand, zu dem sie gehen können, eine neutrale Institution, die ihnen hilft. „Wenn wir bekannter werden, können uns Menschen frühzeitig kontaktieren. Und die Muhakimin können moderieren, bevor die Streithähne handgreiflich werden.” Offenbar scheint das bereits zu funktionieren: Ramadan berichtet, die örtliche Polizeistation in der jüngeren Vergangenheit habe weniger Arbeit, seit die Muhakimin öfter zum Einsatz kommen.

Damit diese Erfolgsstatistik sich auch auf andere Orte ausdehnt, organisiert Ramadan Seminare und trainiert neue Streitschlichter im Lösen von Konflikten. Dazu spielen sie gemeinsam mit erfahrenen Muhakimin vergangene Fälle durch. Und sie lernen etwas, was in der arabischen Welt sonst eher selten eine Rolle spielt: kreativ zu denken.

Um die Akzeptanz der Schlichter zu erhöhen, sollen diese Aufgabe künftig nicht nur die Familienoberhäupter übernehmen. Ramadan hat in Kum al-Ahmar einige jüngere Männer und auch zwei Frauen gewonnen, eine ist gerade mal 29 Jahre alt. Die beiden sind überall im Ort geachtet und respektiert. Besonders in Fällen, in die Frauen verwickelt sind, haben sie oft mehr Erfolg als ihre männlichen Kollegen, weil die Geschlechtsgenossinnen ihnen mehr vertrauen und offener über persönliche Dinge sprechen.

„Mein Sohn wird sich bei dir entschuldigen.“

Als nächstes möchte Ramadan versuchen, seine Initiative weiter zu verbreiten. Derzeit erforscht er den Status Quo der Muhakimin im ganzen Land. Denn zuverlässige Zahlen über ihre Arbeit gibt es bisher nicht. Aber er ist überzeugt, dass gerade deshalb seine Ideen auch anderswo auf Interesse stoßen werden.

„Genug davon!” donnert Abu Zaid. Das Opfer der Messerstecherei, schon im Begriff, eine wütende Tirade gegen den Täter anzustimmen, hält mitten im Wort inne. In dem mit Teppich ausgelegten Raum in al-Mansuriya wird es still. „Der Fall wurde in den vorherigen Sitzungen schon durchgesprochen. Es ist doch alles gesagt. Wenn du deine Beschuldigungen wiederholst, rührst du nur alles wieder auf. Hier sitzt der Vater des Täters, er hat die Schuld bereits zugegeben. Sei sicher, wir werden eine Lösung finden.“

Der Vater, der seinen Sohn in Gegenwart der Versammlung vertritt, geht zu dem Opfer, beugt sich zu ihm und verspricht mit leiser, aber entschiedener Stimme:, „Ich werde mit meinem Sohn in dein Haus kommen, und er wird sich bei dir entschuldigen. Außerdem werde ich ihn darum bitten, dass er in einen anderen Teil des Ortes zieht, damit ihr euch aus dem Wege könnt.”

Ein paar Tage später gehen Täter und Opfer gemeinsam zur Polizeiwache

Es ist, als platze ein Knoten. Auf ein Mal geht alles schnell. Abu Zaid steht auf und führt die Anführer der beiden Seiten zueinander. Sie umarmen und küssen sich nach arabischer Sitte, damit ist die Schlichtung besiegelt. Sie ist der entscheidende Schritt, sie ermöglicht die eigentliche Versöhnung. Sie wird in diesem Fall vollzogen sein, wenn sich der Täter im Hause des Opfers entschuldigt hat. Ein würdiges Ritual, das hilft, den Groll loszulassen. Aber die Schlichtung hat auch praktische Konsequenzen. Ein paar Tage später gehen Täter und Opfer gemeinsam zur Polizeiwache. Sie erklären, dass der Fall erledigt ist und alle Anzeigen hinfällig sind. Täten sie das nicht, so hat es der Muhakim festgelegt, müssten sie eine Strafe von 25.000 Ägyptischen Pfund zahlen, knapp 3.300 Euro. Und die vierfache Summe wäre fällig, sollte eine Partei die andere erneut angreifen.

Während die Familienoberhäupter die Urteilspapiere unterschreiben, weicht die Spannung aus den Männern. Mit einem Mal füllt sich der Raum mit Plaudern. Einige stehen auf und umarmen einander. Sie lachen und zünden sich Zigaretten an. Gemeinsam zitieren sie noch einmal gemeinsam al-Fātiḥa, die erste Sure des Koran voller Dank Gott gegenüber, dass er sie diesen Konflikt hat lösen lassen. „…Dir dienen wir, und dich bitten wir um Hilfe. Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, nicht den Weg derer, die dem Zorn verfallen sind und irregehen!“