Ball statt Revolver

Text: Uschi Entenmann, Zeitenspiegel
Fotos: Uli Reinhardt, Zeitenspiegel

Heute ist ein guter Tag. Erstmals kommt eine Mannschaft aus Medellíns Stadtviertel Manrique in die Comuna 13. Jeden Moment müssten die Spieler in ihrem klapprigen Lastwagen am Rand des Platzes auftauchen, wenn sie sich nicht im Gassengewirr zwischen den abertausend Häuschen und Hütten verfahren haben, die am Steilhang über Medellín kleben. Die Comuna 13 gilt als eine der gewalttätigsten Siedlungen Südamerikas, beherrscht von Mördern, Dealern und Dieben.

Dennoch ist Carlos, 45, zuversichtlich: „Fußball ist das Einzige, was hier zählt. Nur über ihn kommt man an die Leute heran.“ Er schwenkt seine Pranke über die Gasse vor seiner Holzhütte, wo eine Horde Jungen einem eiförmigen Uraltball nachjagt. „Alle kicken. Fußball ist deshalb so ziemlich das Einzige, was alle respektieren.“ Wilmar kommt gerade aus seiner Hütte, die er ein paar Schritte vom Platz entfernt aus Abfallholz zusammengenagelt hat. Wilmar ist Anfang zwanzig und bolzt seit drei Jahren unter dem Emblem „El Golombiao“. „Viele meiner Freunde sind tot“, sagt er. „Es ist die Hölle hier.“ Linke und rechte Guerilla und Banden terrorisieren das Viertel. Wer bei den Behörden auspackt, wird liquidiert. Ein Verdacht genügt. „Einmal haben sie uns aus dem Bus geholt. Mich und ein paar Jungs ließen sie laufen. Die anderen fanden wir später. Verbrannt, mit abgezogenen Fingernägeln.“

Gleich muss er aufs Spielfeld, denn inzwischen sind die Gegner aus Manrique eingetroffen. Ihr Coach, der 30-jährige John Jairo, stapft auf Carlos zu. Beide sind aus demselben Holz geschnitzt, stammen aus Vierteln, in denen Armut und Arbeitslosigkeit herrschen, waren Mitglieder von Banden, die Schutzgelder erpressten. „Jeden Abend gingen wir zum Busbahnhof und kassierten bei den Fahrern ab“, berichtet John Jairo. „Die zahlten alle.“ Heute stehen sie auf der anderen Seite, sind in ihren Vierteln, den so genannten Barrios, Respektspersonen vom Rang eines Bürgermeisters. Sie wissen, wie man mit Bandenführern, Polizeichefs und der Stadtverwaltung umgehen muss. Gemeinsam mit Carlos organisiert John Fußballturniere, zu denen Teams aus anderen Barrios anreisen. Vielleicht die einfachste und zugleich wirkungsvollste Maßnahme, in den Slums von Medellín Frieden zu stiften. „Auf dem Platz kann man sich mit anderen Kerlen messen, ohne dass einer dabei draufgeht. Und wer gut spielt, imponiert den Mädchen“, erklärt Carlos. „Die meisten hängen rum und kommen zu uns, um überhaupt etwas zu tun.“

Das Arbeitslosenheer wird immer grösser. Nirgendwo gibt es zudem so viele Binnenflüchtlinge wie in Kolumbien: 1,5 Millionen sind aus ihren Dörfern in die Städte geflohen, weil sich linke Guerilla und rechte Paramilitärs vor ihrer Haustür bekriegen. In den Barrios von Medellín kommen sie vom Regen in die Traufe. Arbeitslosigkeit und Bandenkriege bestimmen insbesondere in der Comuna 13 den Alltag. Am schlimmsten wüteten die jungen Auftragskiller, die Sicarios. Sie terrorisierten die Bevölkerung so gnadenlos, dass sich die Regierung vor anderthalb Jahren gezwungen sah, das Viertel in einer Militäraktion mit Hubschraubern und Panzern zurückzuerobern. Ist es seitdem friedlicher geworden? „Na ja“, sagen die beiden Männer, „es ist besser geworden. Aber die Verbrecher machen die Gegend immer noch unsicher.“

Auch der Deutsche Jürgen Griesbeck sorgt seit zehn Jahren dafür, dass sich die Lage ein wenig beruhigt. Der 39-jährige Sportwissenschaftler und Soziologe reiste 1993 im Rahmen eines Forschungsprojekts der Kölner Sporthochschule nach Medellín. Dort musste er ein Jahr später miterleben, wie Andrés Escobar, Spieler der kolumbianischen Nationalmannschaft und des Traditionsvereins Atlético Nacional de Medellín, auf offener Strasse erschossen wurde. Angeblich, weil ihm bei der FIFA Fußball-Weltmeisterschaft 1994 in den USA ein Eigentor unterlaufen war, das Kolumbien vorzeitig aus dem Turnier warf. Griesbeck war über solch mörderischen Fanatismus schockiert und gleichzeitig von der Leidenschaft fasziniert, die Fußball entfesselt. Er fragte sich, ob sich die Obsessionen, die es weckt, nicht auch in friedliche Bahnen lenken ließen.

Die Regeln, die er daraufhin entwickelte, erregten zunächst einiges Aufsehen. Sie schreiben unter anderem vor, dass in jeder Mannschaft mindestens zwei Frauen mitspielen müssen und eine von ihnen das erste Tor erzielen muss, wobei ein Team nicht allein durch Tore, sondern auch durch Fairness im Zweikampf mit dem Gegner gewinnen kann. Ein Regelwerk, das den Machos in der Comuna 13 absurd erschien. Frauen, so ihr Credo, haben auf einem Fußballfeld nichts zu suchen. Mit Hilfe eines Sportinstituts besuchte Griesbeck Bandenführer, unter anderem auch John Jairo. Dieser winkte allerdings sofort ab, als ihm der Gast aus Deutschland eröffnete, dass in den Straßenmannschaften Frauen mitspielen sollten. „Aber nach einer Weile kam er zurück“, berichtet Griesbeck, „vielleicht wegen der neuen Bälle und Trikots, die wir verteilten.“ Doch schon der erste Versuch John Jairos schien ein Desaster zu werden. 18 Teams traten an, alle von Bandenchefs angeführt. Beim sechsten Spiel, in dem die wildesten Kerle aufeinander trafen, verhängte John Jairo eine Minute vor Schluss einen Elfmeter, der das Spiel entschied. Ein Spieler bedrohte ihn daraufhin mit einer Pistole, andere bewarfen ihn mit Steinen. Erst als der Bandenchef ein Machtwort sprach, konnte sich John Jairo aus dem Staub machen. „Aber kurz darauf klopfte der Revolverheld an meine Tür und entschuldigte sich“, erzählt er. „Der Bandenchef schenkte mir sogar Geld als Zeichen der Freundschaft, und dann ließen wir eine Party steigen, die bis zum nächsten Morgen dauerte.“

Unter diesen Vorzeichen konnte man die Pilotphase des Projektes „Futbol por la paz“ einleiten, zumal der Bürgermeister von Medellín vom Projekt sehr angetan war und öffentliche Gelder bereitstellte. Griesbeck erinnert sich: „Bald hatte ich allein in Manrique 70 Sportleiter, die bereit waren, die Grenzen zwischen den Vierteln zu öffnen“. Nach ein paar Monaten waren es 500, nach einem Jahr 1.200 Teams und 12.000 Spieler allein in Medellín. Unter dem Motto „Futbol por la Paz“, Fußball für den Frieden, machte das Projekt landesweit Schule und wurde im Herbst 2002 von der kolumbianischen Regierung übernommen, die es in „El Golombiao“ umbenannte und auf das ganze Land ausdehnte.

Heute spielen 17.000 Jugendliche in 1.600 Mannschaften. Die (Spiel-)Regeln werden inzwischen allgemein akzeptiert und kommen dem Spielfluss zugute, der kaum noch von Fouls oder Streit unterbrochen wird. Entscheidend jedoch ist, dass sich die Mannschaften nicht aus Vereinen, sondern aus dem unerschöpflichen Fundus der Straßenkicker rekrutieren. „Jeder darf mitspielen: Diebe, Dealer, Säufer, Kiffer, Killer. Wir schließen keinen aus, sie müssen nach unseren Regeln spielen“, sagt Coach John Jairo und ist stolz darauf. Unterstützt wird „El Golombiao“ in Kolumbien von nationalen Geldgebern, UNICEF und der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. Es gehört inzwischen zum globalen Netzwerk „Streetfootballworld“ mit Sitz in Berlin. Träger ist die Stiftung Jugendfußball, deren Präsident der ehemalige deutsche Nationalspieler und Bundestrainer Jürgen Klinsmann ist. „Genialer Fußball entsteht auf der Straße, nicht in Vereinen“, sagt Klinsmann, der nicht zuletzt deshalb weltweites Ansehen errang, weil er im ungestümen Stil eines Straßenfußballers stürmte. „Genialer Fußball hat etwas Wildes und Anarchisches, ist ganz und gar kein bürgerlicher Sport“. Weltklasse-Spieler seien unangepasste Typen, die bedingungslos um den Sieg kämpften. „An diese wilden Kerle kommt kein Verein heran.“

„Vamos!“ schreit John Jairo und schart seine Kerle um sich, dazwischen auch seine 30-jährige Frau Yasmin und die 14-jährige Tochter Jorani. Nervös trippelnd lassen sie die Litanei über sich ergehen, mit der John Jairo den Teams wieder mal die Regeln predigt. Nicht nur Tore zählen, auch Schimpfworte und Fouls fallen ins Gewicht, aber auch faire Gesten, zum Beispiel, wenn ein Spieler einem anderen auf die Beine hilft. „Und vergesst nicht: Das erste Tor muss eine Frau schiessen. Los geht’s!“ John Jairo steht am Spielfeldrand, seine Augen leuchten: ein Team aus Manrique inmitten der Comuna 13 – und keinem wird ein Haar gekrümmt! Das ist schon ein kleines Wunder. „Ich organisiere das Spiel, bin aber nicht Schiedsrichter. Einen solchen gibt es nicht, denn die Teams sollen ihre Konflikte selbst regeln. Die Kerle lernen, ihren Frust zu kontrollieren. Und Mädchen sind gute Schlichter, doch nur, wenn sie als Spielerinnen dabei sind“, sagt John Jairo. Was für ein faires Spiel! Alle johlen, wenn ein Tor fällt. Bald wird John Jairo die Teams an einen lokalen Trainer übergeben und sich um neue Mannschaften kümmern. John Jairo und Carlos steigen nach dem Spiel über Betontreppen einträchtig ins Tal hinab, zu einer Schule, in der sie die Direktorin Magdalena Caro empfängt. Sie setzt Hoffnungen in das Fußballprojekt. „Von unseren 1.000 Schülern wird jeden Monat mindestens einer ermordet“, sagt Senora Caro. Keine Überraschung für Carlos, dessen Sohn im Jahr 2003 erschossen wurde. Darüber reden mag er nicht. „Versucht euer Glück“, sagt die Schulvorsteherin zu den Männern, die von Klassenzimmer zu Klassenzimmer wandern, wo John Jairo das Spiel erklärt und die Namen der Jungen und Mädchen notiert, die mitmachen wollen. Nach einer Stunde hat er 55 Spieler angeworben. Morgen werden sie in der nächsten Comuna für „El Golombiao“ auf Werbetour gehen. Wie viele Spieler gibt es? Sie zucken mit den Schultern und grinsen über ihre Narbengesichter. „Unzählige“, sagt John Jairo, und Carlos ergänzt: „Auf jeden Fall genug, um 100.000 Mal für den Frieden zu kicken.“