Zweites Leben kleiner Mörder

UgandaText von Carsten Stormer
Fotos von Frank Schultze

Seit neunzehn Jahren versucht Sektenführer Joseph Kony in Uganda einen extremistischen „Gottesstaat“ zu errichten. Achtzig Prozent seiner „Soldaten“ sind Kinder, die er wie Kampfhunde zum Morden abrichten lässt. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat Haftbefehl gegen ihn und seine Helfer erlassen. Unterdessen versuchen ugandische Sozialarbeiter, die Kinder wieder in ein ziviles Leben zu führen.

Joshua trägt seinen Arm in Gips. „Die haben bei meiner Flucht auf mich geschossen.“ Er lächelt tapfer, doch die Augen flackern. Sein Körper ist ausgemergelt, sein Haar stumpf. „Unterernährung“ haben die Ärzte diagnostiziert. Doch das ist sein kleinstes Problem.

Joshua ist fünfzehn. Vor einer Woche kam er in das Lager, das die Hilfsorganisation Guscu für ehemalige Kindersoldaten im Norden Ugandas eingerichtet hat. Hinter dem verrosteten Eisentor warten eine wackelige Schaukel, ein Karussell und jeden Tag ein warmes Essen auf ihn. Vor allem aber Ärzte, Sozialarbeiter und Lehrer. Außerdem ein Schlafsaal mit Stockbetten unter Moskitonetzen. Dort liegt Joshua und kaut Erdnüsse.

Joshua war neun, als sie ihn schnappten. Damals hauste er mit seinen Eltern in einem Flüchtlingslager in der Provinz Achioliland, nahe der Grenze zum Sudan, als ihn eines Morgens Schüsse und Schreie weckten. Eine Terrorbande, Gottes Widerstandsarmee genannt, richtete ein Blutbad unter den Erwachsenen an und verschleppte Joshua und Hunderte von Kindern in den Busch, wo man dem Jungen eine Machete, in die Hand drückte und befahl, einen Gefangenen zu töten. Das Opfer war Joshuas Onkel. „Er sagte, ich müsse ihn töten, wenn ich am Leben bleiben will“, berichtet Joshua. Doch erst, als einer der Rebellen ein Gewehr auf ihn richtet, schlägt er zu. Auf den Kopf, den Rücken, ins Gesicht. Mit geschlossenen Augen – bis sich der Mann vor ihm im Staub nicht mehr regt.

„Hätte ich mich geweigert, wäre ich jetzt tot.“

Eine Woche dauert die Ausbildung zum Killer, dann ist Joshua „Soldat der Gottesarmee“. Er lernt schießen, wird Waffenträger für einen Kommandeur, der sich Bosco nennt. Wenn er nicht spurt, wird er geschlagen. Kinder, die zu schwach sind, werden getötet. Ebenso, wer Mitleid zeigt. Joshua tut, was man ihm sagt. „Hätte ich mich geweigert, wäre ich jetzt tot.“ Wie oft er getötet hat? „Weiß nicht“, sagt er verschämt. Ja, auch Kinder waren darunter. Das härtet ab, hätten die Kommandeure gesagt. Er überfällt Lager, plündert die Habseligkeiten der Flüchtlinge. Sechs Jahre geht das so. Er träumt jede Nacht von seiner Flucht, spricht aber mit keinem darüber. Aus Angst, dass man seine Pläne verraten könnte.

Während eines Gefechts mit der Armee gelingt ihm die Flucht. Tagelang irrt er allein durch den Busch bis er durch das rostige Tor ins Lager bei Gulu schlüpft, eines von vielen, das Hilfsorganisationen in der Region Achioliland für ehemalige Kindersoldaten eingerichtet haben.

Mindestens 20.000 Kinder sollen in den vergangenen neunzehn Jahren auf Befehl des Sektenchefs Kony entführt und zu Killern gedrillt worden sein. Über Joseph Kony gibt es kaum Informationen. Es wird gemunkelt, dass er Ministrant gewesen sei und eine starke charismatische Ausstrahlung besäße, die ihm offenbar geholfen hat, eine „Gottesarmee“ aus Raubmördern zu rekrutieren. Wo er steckt, weiß keiner, Gerüchte besagen sogar, dass er er tot sei. Umso präsenter wirken seine Killerkommandos. Banden aus fünf bis zehn Mitgliedern, die überall im Land auftauchen, wild um sich schießen, plündern, Kinder entführen und wieder im Busch verschwinden. Die schlecht ausgerüsteten Soldaten der ugandischen Armee haben Angst vor den Desperados. Bei Angriffen laufen die meisten davon. Wer einmal in die Fänge dieser Banden gerät, ist so gut wie verloren. Nur wenigen gelingt die Flucht. Viele seiner Leidensgenossen seien im Busch gestorben, berichtet Joshua – an Schusswunden, Krankheiten, Hunger.

Seit vier Jahren betreut Lydia ehemalige Kindersoldaten

Im Lager beginnt für Joshua ein Leben, in dem es nicht gerade aufregend zugeht. Die rundliche Lydia Anena, 32, schleppt einen Wäschekorb herbei, schöpft Wasser in einen Bottich und wirft ein Hemd hinein. Joshua und drei andere Jungen sehen zu. „So geht das“, sagt sie und beginnt, das schmutzige Stück zu walken und zu wringen. Dann drückt sie den Jungen die Seife in die Hand. „Jetzt seid ihr dran.“

Lydia schüttelt ihre Rastazöpfchen und sieht lächelnd zu, wie sich die jungen Kerle ungeschickt, aber willig an die ungewohnte Arbeit machen. Seit vier Jahren betreut sie in Diensten der Hilfsorganisation ehemalige Kindersoldaten. Was hat sie bewegt, diesen Haufen halbwüchsiger Massenmörder zu zivilisieren? „Wir haben Krieg“, sagt sie. „Wenn jemand gebraucht wird, dann sind es wir Sozialarbeiter.

Doch Joshua lernt nicht nur, wie man seine Kleidung in Ordnung hält und den Schlafsaal schrubbt. Jeden Morgen um neun klemmt er sich ein paar Hefte unter den gesunden Arm und trottet mit seinen Kumpanen zu dem großen Mangobaum, unter der ihm ein Lehrer Lesen, Schreiben, Rechnen beibringt.

Nur durch Bildung, davon ist Lydia Anena überzeugt, haben die Kinder eine Chance. „Viele von ihnen haben nie eine Schule besucht, haben nie stillsitzen und zuhören gelernt.“Jeden Tag wird gemeinsam gekocht, gespült, gebetet. Jeder hat eine feste Aufgabe. Dienstags und donnerstags gibt es im Lager traditionelle afrikanische Tänze. Sonntags Gottesdienst. Das schweißt zusammen, Freundschaften entstehen.

„Wenn sie ein Handwerk beherrschen, können sie ihre Familien versorgen“

„Die Kinder lernen ihren Tag zu organisieren und ihm Inhalt zu geben“, erklärt Lydia Anena auf dem Weg in eine Lagerbaracke, in der zwölf Mädchen zwischen sieben und sechzehn Jahren an alten Singer Nähmaschinen sitzen und sich über Schnittmuster beugen. „Wenn sie ein Handwerk beherrschen, können sie später sich und ihre Familien versorgen“, ruft sie durch das Rattern der Nähmaschinen.

Vor der Küche sitzen zwei Mädchen und warten darauf, dass ihnen eine Sozialarbeiterin eine Blutprobe abnimmt. Rund ein Drittel aller entführten Kinder sind Mädchen, „Bei jeder von ihnen machen wir einen HIV-Test“, erklärt Lydia Anena. „Egal, wie jung sie sind. Fast alle Mädchen wurden von den Rebellen vergewaltigt. Die Rebellen nennen dies ‚verheiraten‘. Viele wurden angesteckt.“ In ein paar Tagen erfahren sie das Ergebnis.

In einem Nebenraum sitzen drei Mädchen an einem Holztisch, vor ihnen Papierbögen und Buntstifte. Agnes, Sarah und Rose sollen malen. Schüchtern blicken sie sich um, schauen, was die anderen zu Papier bringen. „Traut euch. Malt, was ihr wollt. Alles ist erlaubt,“ ermuntert Lydia Anena; lächelt, streicht über Köpfe. Zögernd beginnen die Mädchen zu zeichnen, nach einer Weile sind Umrisse zu erkennen: Hubschrauber, aus denen Bomben fallen; brennende Häuser, Gewehre, Gefangene mit Seilen aneinander gefesselt. „So sehen sie die Welt,“ sagt Lydia Anena. Aus der Küche dringt der Geruch von Lammfleisch. Zwei Jungen rühren in einem Kessel, der sich fast einen Meter hoch über der offenen Feuerstelle auftürmt. „Die Rebellen sagten uns, dass wir in diesen Lagern vergiftet werden,“ sagt der sechzehnjährige Walter und rührt mit einem armdicken Stock den Reis um. Nur nichts anbrennen lassen! „Die haben gelogen. Hier wird gar keiner vergiftet. So viel zu essen hatte ich noch nie.“ sagt er lächelnd.

Aus dem Ellbogen eines Jungen ragen eiserne Bolzen

Ein Uhr. Essenszeit. 56 hungrige Kinder stürmen zur Küche. Unter dem Blätterdach eines Baums lassen sie sich nieder, nagen Fleisch von Knochen und stopfen sich Hände voll Reis in den Mund. Einige können ihren Teller kaum halten, weil ihre Arme in Schienen und Gipsverbänden stecken. Aus dem Ellbogen eines Jungen ragen eiserne Bolzen. Der Arm ist geschwollen und grotesk verdreht; eine Kugel hat ihn vor zwei Monaten zerschmettert.

Das Auffanglager Guscu gibt es seit elf Jahren. Mehr als 7.800 Kinder flüchteten seitdem hierher, viele mit Schusswunden. „Die versorgen wir zuerst,“ sagt Lydia Anena „Manche Kinder bleiben nur einige Wochen, manche zwei Jahre. Je nach körperlichen und geistigen Zustand.“ Joshua ließ sich behandeln, bekam einen Teller Reis und einen Schlafplatz – und blieb. „Wir sind immer für die Kinder da, vor allem wenn sie reden möchten“. Über ihre Vergangenheit, aber auch über ihre Wünsche und Ziele.

Die Vorbereitung für eine Rückkehr der Kinder besteht aus vielen Schritten. Zunächst ist es wichtig, ihnen das Gefühl zu vermitteln, in Sicherheit zu sein. Deshalb werden das Lager und die Stadt Gulu vom Militär geschützt. Unter diesem Schirm lernen die Kinder, was sie im Busch verlernt haben: Aufstehen, Zähneputzen, zur Schule gehen, Hausaufgaben machen. Waschen, Kochen, Spielen. „Wir sind Ersatzeltern, Freunde und Therapeuten in einer Person“, erklärt Lydia. „Nur in dieser Rolle können wir mit ihnen eine Perspektive von einem anderen Leben entwickeln: Die Jüngeren gehen zur Schule, die älteren Kinder erlernen ein Handwerk.“

„Die denken bestimmt, ich bin tot“ sagt Joshua verlegen

Der schwierigste Part ist jedoch die Zusammenführung mit der Familie und dem Dorf. Auch im Fall Joshua, der sich vor diesem Schritt offensichtlich fürchtete. „Wir haben versucht, seine Eltern ausfindig zu machen, “ berichtet sie. „bisher ohne Erfolg.“ Joshua kratzt sich mit einem Holzstöckchen unterm Gips. „Die denken bestimmt, ich bin tot“ sagt er verlegen. „Ich weiß auch gar nicht, ob die mich wiederhaben wollen.“

Der Begriff „Trauma“ heißt in der Landessprache Ugandas soviel wie „bitteres Herz.“. Viele Kinder im Lager bedrücken Alpträume und Schuldgefühle. Ziel von Guscu ist es, die Seelen ihrer jungen Schützlinge von diesen bitteren Lasten zu befreien und die Rückkehr in die Familien zu ermöglichen. „Wir suchen zunächst in den Flüchtlingslagern nach Angehörigen“, sagt die Sozialarbeiterin, „falls die noch am Leben sind, bereiten wir behutsam die Heimkehr vor.“

Eine mühselige Arbeit, denn nicht alle Flüchtlinge sind registriert. Von manchen erfahren sie nur, dass sie in ein anderes Lager geflüchtet oder tot sind. Doch manchmal haben sie Glück. „Haben wir die Eltern gefunden, fragen wir sie, ob sie bereit sind, ihr Kind aufzunehmen.“

Manche sind nicht dazu bereit. In ihren Dörfern gelten Konys Kindersoldaten als Mörder, ihre Familien haben Angst, selbst geächtet, aber auch vom eigenen Kind bedroht zu werden. Nicht ohne Grund: Zwar sei die Gewaltbereitschaft der Rückkehrer im Lager erstaunlich gering, sagen die Sozialarbeiter. „Viele haben sich so lange ein anderes Leben ersehnt.“ Allerdings: Stress, ein falsches Wort oder das Gefühl, ausgegrenzt zu werden, kann dazu führen, dass ein Kind das tut, was es jahrelang eingetrichtert bekam – brutal zuzuschlagen.

Die Rückkehrer erwartet Misstrauen, Ablehnung und ein „hartes Leben“

Statt Happy End bedeutet die Heimkehr deshalb „den Beginn eines mühseligen Prozesses“, sagt Lydia Anena. Sie spricht auch die Eltern und Geschwister offen auf ihre Ängste an. Und bereitet die Rückkehrer darauf vor, was sie in ihrem Dorf erwartet: Misstrauen, Ablehnung und ein „hartes Leben“. Denn die meisten Familien leben nach jahrelanger Flucht in extremer Armut. Ein zusätzlicher Esser ist alles andere als willkommen. Worte allein helfen da wenig, praktische Lebenshilfe ist gefragt: „Wir bauen ihnen eine Hütte, versorgen sie mit Essen und Medikamenten oder geben ihnen kleine Kredite“, sagt Anena. Das wirkt. „Den Kindern kann nur geholfen werden, wenn auch die Menschen in ihrer Umgebung von ihrer Rückkehr profitieren.“

Nach dem Mittagessen herrscht Aufregung im Lager Gulu. Vor dem Tor drängeln sich schreiende und winkende Kinder um ein Auto. Sie verabschieden drei ehemalige Kindersoldaten. „Wir haben ihre Eltern gefunden und alles für ihre Rückkehr vorbereitet“, erklärt Anena mit heiserer Stimme. „Das ist schön und traurig zugleich. Hoffentlich geht alles gut.“

Schon Wochen zuvor haben Anena und ihre Kollegen Kontakt zu den Clanchefs in den Dörfern der Rückkehrer aufgenommen. Sie sollen mit dem traditionellen Versöhnungsritual helfen, die bösen Geister der Vergangenheit vertreiben und die Gemeinde aufnahmebereit zu machen. „Ohne solche Reinigungszeremonien kann kein Kind in seine Dorfgemeinschaft zurückkehren“, sagt Anena. In den Eingeweiden einer geschlachteten Ziege „liest“ der Dorfälteste, ob das Kind von seinen Taten erlöst ist oder nicht. Dabei muss das cen, der Geist der Ermordeten, den Körper des Kindes verlassen.

Selbst im Krieg legt Grace Arach wert auf Eleganz

„In den meisten Fällen helfen diese Rituale – weil die Menschen daran glauben“, beobachtet Grace Arach, 26, Sozialarbeiterin der Caritas in Uganda – die einzige Organisation des Landes, die einheimische Sozialarbeiter in den Flüchtlingslagern beschäftigt. Ein gefährlicher Job, weil jederzeit Überfälle durch die Rebellen drohen. „In unserer Kultur gibt es nicht dieses biblische Rachegebot von Auge um Auge,“ sagt Grace Arach mit sanfter Stimme. Selbst im Krieg legt sie wert auf Eleganz. Sie trägt ein blaues, figurbetonendes Kleid und goldene Ohrringe, an ihren Fingernägeln schimmert silbriger Lack „Wir wollen Frieden durch Dialog und Versöhnung“. Doch nicht immer seien die Gemeinden oder Familien dazu bereit. „Sie sagen, dass sie ein Kind verloren und einen Mörder zurückbekommen haben.“

Grace Arach muss ins Flüchtlingslager Palogar. Sie rast mit ihrem alten Toyota-Geländewagen über die löchrige Staubpiste Richtung Süden. Am Straßenrand wachen schwer bewaffnete ugandische Soldaten in abgewetzten Uniformen und grünen Gummistiefeln vor Rebellen, die sich im mannshohen Gras verstecken könnten. Vor und hinter dem Wagen fährt eine Patrouille der ugandischen Armee. Je tiefer wir ins Land eindringen, desto gefährlicher wird es. Die Gegend gilt als Hochburg der „Gotteskrieger“. Vor ein paar Tagen beschossen sie einen Lieferwagen – 14 Menschen starben, auf dem Beifahrersitz verbrannte eine Mutter mit ihrem Baby. Der ausgebrannte, von Kugeln durchsiebte Wagen steht am Rand eines verdorrten Maisfeldes.

„Sie kennen nur die Wildnis, haben keine Freunde, sind als Mörder stigmatisiert.“

Grace Arach hat mehr als 800 Kindersoldaten betreut. „Fast alle haben getötet“, sagt Grace. Jetzt ist sie für die „Nachsorge“ zuständig. Sie will die 15-jährige Lalam besuchen, die vor ein paar Monaten das Auffanglager Pajule verlassen hat. „Wir müssen ihnen zeigen, dass wir sie nicht vergessen haben,“ sagt sie. „Das ist wichtig. Denn ihre Alpträume können jederzeit zurückkehren. Sie kennen nur die Wildnis, haben keine Freunde, sind als Mörder stigmatisiert. Wir müssen den Familien klar machen, dass ihre Kinder nicht freiwillig getötet haben.“

Das Flüchtlingslager Palogar: Lehmhütte an Lehmhütte, streunende Hunde, die Luft flirrt. Rund zwanzigtausend Menschen leben hier, doch das Lager wirkt wie ausgestorben. Es ist heiß. Die Bewohner haben sich in ihren Hütten verkrochen. Unter einem Mangobaum spielen Kinder mit einem Pappkarton Fußball. Im Schatten eines Strohdachs hocken lallende Männer, betrunken von einem Fusel aus fermentierter Hirse. Es gibt nichts zu tun – außer auf die nächste Hilfslieferung der Vereinten Nationen zu warten, die einmal im Monat in den Lagern verteilt wird – oder auf den nächsten Angriff der LRA. Soldaten der ugandischen Armee patrouillieren mit entsicherten Kalaschnikows zwischen den Hütten.

Lalam Sunday, 16, sitzt neben ihrer Mutter auf dem Lehmboden ihrer Hütte. Kleine Schweißperlen stehen ihr auf Oberlippe und Nase. Sie wirkt niedergeschlagen und erschöpft. In einer Ecke der Hütte stehen zwei Holzschemel, an der Lehmmauer hängt ein pinkfarbener Rucksack. „Hast du genügend Medizin? Brauchst du etwas?“ fragt Arach, die sich um Lalam kümmert, seitdem das Mädchen im Juli 2004 fliehen konnte und in ein Caritas-Auffanglager kam. „Sie sieht viel besser aus. Als sie zu uns kam, glaubte keiner, dass sie die nächsten Tage überleben würde, “ sagt Grace Arach und strahlt. Sie streicht Lalam über das kurz geschorene Haar und ein Lächeln überfliegt für einen kurzen Moment das Gesicht des Mädchens.

Lalam wurde entführt und in den Sudan verschleppt

Lalam wurde vor zwei Jahren mit ihrem Bruder Christopher von LRA-Banden entführt und in den Sudan verschleppt. „Dort wurden die hübschesten Mädchen an die Kommandeure verteilt“, erzählt sie leise, mit gesenktem Kopf – so, wie sie es bei den Banditen unter Schlägen lernen musste. Immer wieder unterbricht sie sich, kämpft mit den Tränen. „Auch ich wurde einem Kommandeur zugewiesen, sagte sie und zum ersten Mal blickt sie hoch. Ihre Stimme wird laut, Hass blitzt in ihren Augen auf. „Er hätte mein Großvater sein können. Er schlug und tötete Kinder. Er vergewaltigte mich und gab mir diese Krankheit.“ Lalam hat Aids.

Für Mädchen wie sie setzt Grace Arach ihr Leben aufs Spiel. Erst im Oktober wurde einer ihrer Kollegen von Rebellen erschossen. „Natürlich habe ich Angst. Ich bete jeden Tag, dass ich den Tag überlebe. Aber diese Kinder brauchen unsere Hilfe.“

„Es ist wichtig, dass wir nicht nur mit den Rückkehrern sprechen, sondern alle einbeziehen, die Familie, die Clanchefs, die Ältesten, die Kirche.“ Auf solchen Gemeindetreffen wird nicht nur über das Kind, sondern auch über allgemeine Probleme im Dorf oder im Lager gesprochen. „Das fördert das Vertrauen und zeigt uns, ob sich das Kind in die Gemeinschaft integrieren kann. Alle sind von diesem Krieg betroffen. Nicht nur die Kinder“, sagt Arach.

„Die Gewalt kann ich nicht aufhalten, nur das Leid lindern.“

An diesem Vormittag besucht sie Chef Leon Kamaketch. 58, Der schmächtige, grauhaarige Mann hockt an einem wackeligen Schreibtisch in seinem Zelt und umarmt die junge Frau zur Begrüßung. Freundlichkeiten werden ausgetauscht, bevor Grace fragt, wie es Lalam im Lager ergeht. „Sie weiß, dass sie an ihrer Krankheit sterben wird, aber ihre Mutter kümmert sich um sie und lässt sie nicht aus den Augen.“ Arach ist erleichtert. „Den Eindruck habe ich auch. Bitte geben Sie mir Bescheid, sobald es Probleme gibt.“ Die beiden verabschieden sich. „Hier klappt der Versöhnungsprozess,“ sagt Grace später und lächelt.

Dennoch gibt es Momente, in denen sie am Sinn ihrer Arbeit zweifelt. Beispielsweise, wenn ein Kind nach Monate langen Gesprächen und Therapien erneut von Rebellen entführt wird. Denn der Terror der LRA geht weiter. „Die Gewalt kann ich nicht aufhalten, nur das Leid lindern.“

Aufgeben will sie jedoch nicht, so lange es „kleine Wunder“ wie die von Kilama gibt. Der Junge ist 16 und geht in die fünfte Klasse. Er sitzt in der hintersten Bank, die Schuluniform frisch gewaschen, der Rücken gerade, der Blick an die Tafel geheftet. Ein Riese unter Zwergen. Zweieinhalb Jahre zog er mit den Rebellen durch den Busch und kannte Schule nicht mal von außen.

„Als Kilama zu uns kam, war er völlig verstört. Seine Eltern wurden von den Rebellen getötet,“ erzählt sie. Kleinigkeiten wie ein Geruch, ein Geräusch versetzten ihn in Angst, holten die Ereignisse zurück.“ Wieder zu Hause, wurde Kilama im Dorf von anderen Kindern als „Buschkind“ gehänselt und ausgelacht. Seine Großmutter weigerte sich, ihn aufzunehmen, weil sie fürchtete, er würde sie ermorden. Zu seiner Tante wollte er nicht, aus Angst, dass auch sie ihn abweisen würde. Stattdessen lebte er auf der Straße, schlief in Häusereingängen und litt Hunger. „Ich wollte zurück zu den Rebellen. Da wusste ich wenigstens, was mich erwartet.“ Grace Arach sammelte ihn auf und überredet ihn, zur Schule zu gehen. Die Caritas übernahm die Schulgebühren. Heute lebt Kilama bei seiner Tante, die er beschützen will.

Kilamas Gesicht leuchtet, wenn er von der Schule spricht

Kilama sitzt auf dem Pausenhof im Schatten eines Mangobaums. Sein Gesicht leuchtet, wenn er von der Schule spricht: „Schule ist das Beste“, sagt er. „Ich kann jetzt Englisch und ziemlich gut schreiben. Ein Mitschüler kommt vorbei, drei Köpfe kleiner als er. Die beiden grinsen sich an, als hätten sie etwas ausgefressen. „Ich habe viele Freunde, es ist toll hier.“ Nur noch selten suchen ihn seine Opfer in Alpträumen heim. Die junge Frau beispielsweise, die er tötete. Die Rebellen hätten Geld von ihr gefordert. „Ich habe keins“, sagte sie. Doch als Kilama und die anderen ihre Hütte durchsuchten, fanden sie Geld. „Ich stach ihr in die Brust und in den Kopf. Sie schrie nur einmal.“ Ihre beiden Kinder mussten alles mit ansehen. Er verstummt. Dann springt er auf und kommt wenig später auf einem grünen Hollandfahrrad zurück. Es glänzt von den Felgen bis zum Lenker, denn er putzt seinen Schatz nach jeder Fahrt. „Ich will Taxifahrer werden und Touristen durch Uganda fahren“, ruft er und schwingt sich in den Sattel.“ Ich werde in der Stadt wohnen, nicht auf dem Land, wo Rebellen unsere Kinder entführen!“ Er lacht und dreht freihändig eine Runde um den Mangobaum vor der Schule.